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Volkstrauertag in Tennenlohe

Zum Volkstrauertag in Tennenlohe hielt der SPD-Stadtrat Clemens Heydenreich die Gedenkrede.

Liebe Anwesende,

Willkommen an einem ungewöhnlich freundlichen Novembertag. Üblicherweise ist der November dunkel, kalt, es herrscht trübseliges Wetter, aber die Erinnerung an den Sommer steckt einem noch in den Knochen: die rechte Zeit im Jahr, um zurückzuschauen, und auch, um in dieser Rückschau an Dinge zu denken, die sehr ungemütlich sind, aber gleichwohl essenziell. Etwa an die eigene Sterblichkeit, den eigenen Tod, und an die Menschen, die man gekannt und geliebt hat und die einem schon gestorben sind. An diese Toten, die uns nahe sind, denken wir an einem Tag, den der Kirchenkalender vorgibt – an Allerseelen. Der Volkstrauertag hingegen, den wir heute begehen, ist ein weltlicher Feiertag, er hat auch nicht immer im November stattgefunden (aber dazu später), und die Toten, zu deren Ehren er stattfindet, gehören zwar zu unseren Familien, aber dass jemand von uns einen von ihnen noch persönlich gekannt hat, das ist selten geworden, denn der letzte Krieg, an dem Deutsche teilnahmen – wohlgemerkt, der letzte sehr verlustreiche Krieg – ist mittlerweile schon fast achtzig Jahre her, und derjenige, für den anno 1919 der Volkstrauertag eingeführt wurde, ist bereits über hundert Jahre her.

Als es im Jahr 1914 November war, da war der Krieg erst gerade einmal drei Monate alt. Wir kennen die Fotos von drei Monaten zuvor, vom August 1914: Bilder von deutschen Soldaten an deutschen Bahnhöfen, mit gut gelaunten Gesichtern, mit Blumen an den Gewehren. Auf die Waggons haben sie mit Kreide flotte Sprüche geschrieben: „Ausflug nach Paris“, „Auf Wiedersehen auf dem Boulevard“ oder „Auf in den Kampf – mir juckt die Säbelspitze!“ Jetzt, im November 1914, ist diese Euphorie bereits verflogen: Deutsche Truppen haben in Belgien und Nordfrankreich gebrandschatzt und bereits fast zehntausend Zivilpersonen getötet, sie haben sich bei Ypern und Langemarck in blutigen Stellungskämpfen verrannt, es beginnt bereits der sogenannte Grabenkrieg, der jahrelang dauern wird und den wir heute im Nachhinein beinahe gleichsetzen mit diesem Krieg, der europaweit 17 Millionen Tote gefordert hat. Im Nachhinein und wissend, wie es weitergegangen ist, fragt man sich: Wie um alles in der Welt hatten die Jungs sich so dermaßen freuen können auf das, was ihnen bevorstand?

Die Antwort ist ganz banal: Sie dachten, dass das, was ihnen bevorstand, so ungefähr das sein würde, was ihre Väter und Großväter ihnen vom letzten Krieg erzählt hatten. Das war über vierzig Jahre her, es war der Krieg von 1870/71 gewesen. Und auch der war zwar blutig und verlustreich gewesen, vor allem für die Zivilpersonen in Frankreich – aber aus deutscher Sicht war er siegreich gewesen, er hatte zur Gründung des Deutschen Reichs geführt, und die Anekdoten der Großväter daheim am Kaminfeuer hatten sicherlich so animierend geklungen, dass man nun freudig auf die Chance wartete, es ihnen gleichzutun und sie stolz zu machen. „Mir juckt die Säbelspitze“ – aus diesem Spruch schimmert die naive Erwartung hervor, der Krieg werde so werden, wie er schon damals bei Großvater angeblich gewesen war (und wie er in Wahrheit auch damals schon nicht gewesen war) – ein heldenhafter Kampf Mann gegen Mann. Heute wissen wir: Es wurde ein industrieller Krieg, in diesem Krieg kam Giftgas zum Einsatz, es kamen Handgranaten und Panzer zum Einsatz, und es gab nun – auch nicht zu unterschätzen – das Feldtelefon, das heißt, die Generäle mussten nicht mehr nah bei den Kämpfenden an der Front sein, sondern konnten bequem aus dem Hinterland Menschen in Situationen schicken, die sie selbst nicht miterleben mussten.

Sehen wir uns nun das Denkmal an, vor dem wir stehen:

Kriegerdenkmäler wie dieses stehen in ganz Europa in fast jedem Ort. Und oft – außerhalb Deutschlands – sind es nicht nur Krieger-, sondern Kriegsdenkmäler, die an Tote auch in der Zivilbevölkerung gemahnen. Aber auch in Deutschland ist es aufschlussreich, sich an verschiedenen Orten solche Denkmäler anzusehen – ich denke da etwa an Marloffstein. Auf dem Gipfel des Höhenzugs, gegenüber dem Wasserturm: Da steht ein Kreuz für nur _einen_ Toten, den ersten Marloffsteiner Kriegstoten – von Herbst 1914. Am Ende sollten es 16 sein. Es ist beinahe rührend, wie zunächst der Tod eines einzelnen Menschen noch eine solche Erschütterung und Sensation ist, dass sie ein eigenes Denkmal verdient – aber irgendwann beginnt dann der Punkt, an dem die Abstumpfung einsetzt. Und hier, auf der Schrifttafel in Tennenlohe: Johann Reichel, Johann Krahl und Zacharias Heubeck waren im November 1914 bereits tot, zehn weitere sollten folgen – 13 Kriegstote aus Tennenlohe insgesamt sind nicht wenige, wenn man bedenkt, dass Tennenlohe damals nur knapp 400 Einwohner hatte. Das lässt an den berüchtigten Satz denken, den Josef Stalin gesagt haben soll: „Der Tod eines einzelnen Mannes ist eine Tragödie, aber der Tod von Millionen nur eine Statistik.“ Und das, wohlgemerkt, hat er positiv gemeint! Hier zeigt sich der zynische, planmäßige Umgang eines Diktators mit Zahlenmaterial, hinter dem Menschenmaterial steckt.

Dieser Abstumpfungseffekt ist das erste von drei grausigen Dingen in Bezug auf den „gedenkenden“ Umgang mit Kriegstoten, die ich heute ansprechen möchte. Das zweite grausige Ding ist der Effekt der Vorwärtsverteidigung: Neulich auf dem Poetenfest war der Politologe und Kriegsexperte Herfried Münkler zu Gast, und der verwies darauf, dass irgendwann im Ersten Weltkrieg ein Punkt kam, an dem die immense Anzahl der bereits Getöteten nicht mehr dazu mahnte, den Wahnsinn zu beenden, sondern im Gegenteil dazu antrieb, alles noch weiter eskalieren zu lassen – nach dem Motto: „Jetzt gibt es erst recht kein Zurück mehr, denn all die Toten dürfen nicht umsonst gestorben sein“. So gerät gerade die Vielzahl der Toten zum Argument, noch mehr Tote zu erzeugen.

Und das dritte grausige Ding, auf das ich hinweisen möchte, spricht zu uns aus diesem Denkmal selbst. Es ist am 15. November 1930 eingeweiht worden, also zwölf Jahre nach dem ersten Weltkrieg und neun Jahre vor dem zweiten – und die Art, wie es gestaltet ist, weist auf diesen nächsten Krieg bereits voraus. Denn dieser Soldat sieht ja nicht gerade so aus, als läge er schwerverletzt im Sterben – sondern vielmehr, als mache er nur eine Pause und wolle dann wieder aufstehen. Sein trutziger Blick spricht dafür, und das Kunstwerk lässt offen, ob er sein Schwert (man beachte die geschichtsverfälschende Heroisierung – als hätte man in Verdun oder Ypern mit dem Schwert gekämpft!) gerade in die Scheide steckt oder ob er es herauszieht. Die Ästhetik dieses Denkmals ist keine trauernde, erschütterte, die sagt „Nie wieder!“, sondern eine trotzige, heute würde man sagen „passiv-aggressive“, die sagt „Beim nächsten Mal siegreich!“ Man denke an die Legende, an der damals von reaktionärer Seite gestrickt wurde: das deutsche Heer sei „im Felde unbesiegt“ und nur einem hinterlistigen „Dolchstoß“ erlegen. Und in genau diesem Sinne ging es natürlich erst recht weiter, als Hitler und die Nazis an die Macht kamen, die von Anfang an den nächsten Krieg planten: Meine Großmutter (die war Jahrgang 1903 und lebte in Berlin) konnte sich noch gut daran erinnern, wie nach 1918 die Straßen Berlins jahrelang geprägt waren vom Anblick der „Kriegskrüppel“ – von schwerstens verunstalteten und entstellten jungen Männern, die oftmals am Straßenrand betteln mussten. Und sie erinnerte sich auch daran, wie diese Krüppel in den 30er Jahren nach und nach aus dem Straßenbild verschwanden. Nicht etwa, weil sie plötzlich alle gestorben wären (sie waren ja noch immer recht junge Männer!), sondern nein, die Nazis steckten sie in geschlossene Heilanstalten – denn ihr Anblick war ja nun alles andere als geeignet dazu, jungen Menschen Lust zu machen, sich ebenfalls in eine solche Hölle zu stürzen. Genau diese Lust sollten sie aber bekommen.

Und so benannten die Nazis denn auch den Volkstrauertag, der seit 1925 jährlich im Februar oder März begangen worden war, 1934 in „Heldengedenktag“ um: An die Stelle des Totengedenkens tritt nun offiziell die Heldenverehrung. Der Rückblick in Trauer und Erschütterung wird überschrieben durch die Verehrung eines Verhaltensideals, dem man nachstreben soll, weil das für den künftig geplanten Krieg wichtig sein wird. Und ihren Gipfel erreichte diese Umprägung des Gedenktags im Jahre 1939 – da verlegte man ihn fest auf den 16. März. Und was war an diesem 16. März geschehen? Die Wiedereinführung der Wehrpflicht.

Was dieses Denkmal also abbildet wie in einer Momentaufnahme, das ist das, was man heute einen „eingefrorenen Konflikt“ nennt – einen Konflikt, der wieder auftauen kann. Dass er das getan hat und was dabei herausgekommen ist, das zeigen die Tafeln links und rechts, die später hinzugekommen sind – zu den 13 Toten aus dem, was man damals noch „den Weltkrieg“ nannte und was wir heute den „ersten Weltkrieg nennen“, gesellen sich 53 Tote aus dem „Zweiten Weltkrieg“, der insgesamt bis zu 80 Millionen Tote gefordert hat.

Heute (seit 1952) ist der Volkstrauertag im Kalender dort angekommen, wo er hingehört: im Herbst, gekoppelt an die kirchliche Saison des Totengedenkens. Wenn wir in Deutschland heute an den letzten großen Krieg erinnern, den wir (bzw. nur noch die wenigsten von uns) auf deutschem Boden erleben mussten, dann hören und denken wir oft die Formel „Nie wieder!“. Das ist gut so, das hat sich breit etabliert, und das liegt daran, dass dieser Krieg einer war, der europaweit sogar noch viel mehr Leid und Zerstörung angerichtet hat als der vorherige. Und dass er mit dem Zivilisationsbruch einherging, einen Völkermord mit industriellen Mitteln zu vollbringen – und dass er, nicht zuletzt, auch deutschen Boden erreicht hat, siehe das nahegelegene Nürnberg.

Wie gesagt, mit unserem „Nie wieder!“ ist es gut so – aber im Frühling dieses Jahres, auf das wir jetzt zurückschauen, haben wir Deutsche gelernt, dass „Nie wieder!“ nicht für jeden in Europa das erste ist, was ihm zum Thema Krieg einfällt.

Seither kommen geflüchtete Menschen aus der Ukraine zu uns, einem Land ganz in unserer Nähe, das völkerrechtswidrig überfallen wurde, nur weil ein Machthaber weiter östlich sein Verhältnis zu ihrem Land nicht als Frieden betrachtete, sondern – ja – als eingefrorenen Konflikt, und ihn in seinem Verständnis wieder aufgetaut hat. Ja, es genügt bereits, wenn ein Einzelner so denkt – wenn er derjenige ist, der in seinem Land die alleinige, diktatorische Macht hat. Demokratische Gesellschaften können Kriege besser verhindern – was nicht heißt, dass sie es immer tun, aber in ihnen hat das Volk wenigstens gute Mittel dazu in der Hand.

Und in diesen Wochen nimmt Tennenlohe Menschen aus Afghanistan auf, aus einem Land also, das seit über vierzig Jahren nur noch Krieg und keinen Frieden mehr erlebt hat, aufgrund eines – ja – eingefrorenen Konflikts. Menschen, die für die Bundeswehr gearbeitet haben und jetzt, nach dem Regimewechsel, als sogenannte „Kollaborateure“ ihres Lebens nicht mehr sicher sind – wohlgemerkt, als Zivilpersonen. Lernen wir sie kennen, sprechen wir mit ihnen und hören wir ihnen zu, und ebenso den Menschen aus der Ukraine. Hoffen wir für deren Land und für ganz Europa, dass in diesem Krieg nicht das Argument aufkommen wird „Jetzt erst recht – die bisherigen Toten dürfen nicht umsonst gestorben sein!“ Denken wir daran, dass bis heute – wie seit eh und je – in jedem Krieg vor allem die sogenannten Zivilistinnen und Zivilisten leiden, die ihn nicht vom Zaun gebrochen haben, die ihn nicht mit Waffen betreiben und deren Leiden auch kein Soldatendenkmal abbildet. Aber mit den Soldaten haben sie gemeinsam, dass sie einfach nur hätten leben wollen, ungestört und möglichst glücklich vor sich hinleben, so wie auch wir es heute wollen – und wie wir es können. Seien wir uns auch in Dankbarkeit bewusst – und ja, auch mit Stolz, denn darauf dürfen wir stolz sein! –, warum wir in Mittel- und Westeuropa heute ein sicherer Hafen für Menschen aus weniger glücklichen Regionen sein können: Weil wir mit der Europäischen Union seit siebzig Jahren eine Gemeinschaft der Staaten und Völker aufgebaut haben, die ihre Konflikte friedlich austrägt – in Demokratie, mit wirtschaftlicher Partnerschaft, mit kulturellem Austausch –, so dass sie eben nicht wieder aufbrechen können. Und in der Leiden und Traumata zwar nicht vergessen sind, denn Leid kann man nicht vergessen – aber überwunden sind. Und in der auch kriegstreiberische Ideologien, die beanspruchen, um so vieles größer zu sein als der einzelne Mensch, dass der letztlich zum Material und sein Leben zur statistischen Kennzahl wird – dass solche Ideologien rechtzeitig Gegenwind bekommen können. Und kommen wir dabei gemeinsam zu demjenigen Schluss, der auch das würdigste Gedenken für die Tennenloher ist, deren Namen hier stehen: Nie wieder Krieg!

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